Von Lukas Daubner
Vom jüdischen Leben im Wedding sind – wie in vielen deutschen Orten – weitestgehend nur noch kleine bronzene Quadrate übrig: die vom Künstler Gunter Demnig initiierten Stolpersteine. Stumme, traurige Zeugnisse der Zerstörungs- und Mordlust unserer nationalsozialistischen Vorfahren.
Daher ist das Buch Bittersweet – Jüdisches Leben im Roten Wedding 1981 – 1933 des Historikers Carsten Schmidt wichtig – insbesondere in Zeiten wieder um sich greifenden Antisemitismus. Es zeigt nicht nur wie beschwerlich das Leben zur Jahrhundertwende im Wedding war, sondern auch, wie jüdisches Leben im Arbeiterbezirk aussah.
Heute ist es schwer vorstellbar, dass vor 150 Jahren am Leo Kühe grasten und einige Windmühlen – denen die Müllerstraße ihren Namen verdankt – die Szenerie bestimmten. Mit der Industrialisierung entstanden Fabriken, Mietskasernen und andere Infrastrukturen. Berlin lockte – wie heute – Menschen von nah und fern an. Viele Jüdinnen und Juden flohen zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Pogromen aus Osteuropa nach Berlin und lebten in bitterer Armut.
Zwar war Berlin die deutsche Stadt mit der größten jüdischen Population. Im Wedding war davon aber lange wenig zu merken. Ende des 19. Jahrhunderts zogen erste Jüdinnen und Juden in den Wedding. Da sich die nächste Synagoge an der, für damalige Verhältnisse, fernen Torstraße befand, war das jüdische Leben aber überschaubar. Erst nach und nach prägten jüdische Kaufleute, Handwerker oder Hilfseinrichtungen den Wedding mit. Insbesondere rund um den Weddingplatz oder an der Badstraße entstanden kleine jüdische Zentren. Ein bis heute bestehendes Zeugnis davon ist das jüdische Krankenhaus an der Heinz-Galinski-Straße.
Jüdische Kinder gingen zur Schule, jüdische Familien in die neugebaute Synagoge an der Prinzenallee, jüdische Fabrikanten gründeten Fabriken (z. B. die Tresorfirma Arnheim) und man shoppte in jüdischen Kaufläden. Normales Leben eben.
Diese Normalität endete rasch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in den 1930er Jahren. An Beispielen wie dem Badeverbot für Jüdinnen und Juden im Plötzensee wird der krasse Einschnitt ins Alltägliche deutlich. Die jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn hofften noch, dass das Unheil vorrübergeht. Aber auch im Wedding wurden ihre Geschäfte zerstört, Wohnungen enteignet und sie nach und nach aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Ein Großteil von ihnen wurde deportiert und ermordet.
Carsten Schmidt porträtiert einige jüdische Persönlichkeiten und schreibt Geschichten einzelner Gebäude auf. Daneben überraschen viel historische Details über den Wedding. Abgerundet wird die Darstellung mit den Erinnerungen des Sohnes eines wichtigen Weddinger Rabbiners. Yisrael Alexander gelang die Flucht vor den Nazis und er starb 2005 in Israel.
Schmidts Buch verdeutlicht die Normalität jüdischen Lebens im Wedding – aber auch die Herausforderungen, mit denen die Menschen lebten.
Dem Buch sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen. Gerade, aber nicht nur, in Schulen können die historischen Darstellungen dazu beitragen, aktuelle Diskussionen zu begleiten und Raum für Auseinandersetzungen über Zusammenleben und Antisemitismus schaffen.
Carsten Schmidt, Bittersweet – Jüdisches Leben im Roten Wedding von 1871-1933 ist 2023 bei Hentrich & Hentrich erschienen. Das Buch hat 168 Seiten und 40 Abbildungen
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